Gedanken zur Realisierung von Inklusion aus der Perspektive der Bildungsforschung

Ein Beitrag von Annedore Prengel, Anne Piezunka und Vera Moser (Universität Frankfurt am Main)

In Bildungspraxis und -forschung wurde in den letzten Jahren intensiv untersucht und diskutiert, ob und wie in Deutschland Inklusion im schulischen Bereich realisiert wird. Analysen ergeben, dass Inklusive Pädagogik an einem Teil der Schulen im deutschen Bildungswesen – beginnend in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts – erfolgreich praktiziert wird, aber dass die systematische Implementation von Inklusion in der Fläche immer noch aussteht (Prengel 2022).

Vor diesem Hintergrund nimmt unser Artikel zwei Bereiche zum Stand der Inklusionsentwicklung in den Blick und formuliert hierzu Vorschläge:

  1. Vorschläge zur Implementation inklusionsförderlicher Strukturen
  2. Vorschläge zu konzeptionellen Aspekten inklusiver Pädagogik und Inklusionsforschung

1. Vorschläge zur Implementation inklusionsförderlicher Strukturen

Als strukturelle Bedingungen schulischer Inklusion gelten u.a. die ausreichende Ressourcenausstattung, die verbindliche Kooperation in multiprofessionellen Teams aus schul-, sonder- und sozialpädagogisch qualifiziertem Personal, innere Differenzierung im Unterricht sowie die angemessene Fortbildung:

  • Um ausreichende Ressourcenausstattung für Inklusion zu ermöglichen, können Regelschulen und Sonderschulen zusammengelegt werden. Das verbreitete Unterhalten einer Doppelstruktur aus parallel existierenden Regel- und Sonderschulen verursacht hohe Kosten, die sich inklusionshinderlich auswirken und mit den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention nicht kompatibel sind.
  • Schulen brauchen eine ausreichende Ausstattung mit fest zum Jahrgangsteam gehörenden Lehrkräften und sonderpädagogischen Fachkräften. Der verbreitete Einsatz sonderpädagogischer Fachkräfte an mehreren Schulen gleichzeitig verhindert zwei notwendige inklusive Prozesse: die kontinuierliche kollegiale Kooperation im Team und die Realisierung förderlicher, Halt gebender pädagogischer Beziehungen. Die Einrichtung von fest im Stundenplan verankerten Teamsitzungen ist unerlässlich.
  • Eine Qualitätssicherung inklusiven Unterrichts ist unverzichtbar: Für alle Lernenden ist ein kognitiv aktivierender, didaktisch abwechslungsreicher, mit hoher Eigenaktivität und kooperativer Zusammenarbeit der Lernenden verbundener Unterricht und in Anknüpfung an deren Vorwissen in Orientierung an einer gemeinsamen Thematik anzubieten– vorzugsweise fächerübergreifend und projektförmig. Dies erfordert eine gemeinsame Planung und Durchführung des beteiligten pädagogischen Personals. In systematischen Fortbildungsvorhaben sollte grundlegendes Wissen über die Didaktik der inneren Differenzierung im Fachunterricht sowie in fächerübergreifender Freiarbeit und Lernbüroarbeit vermittelt werden.
  • Inklusive Pädagogik hat dafür Sorge zu tragen, dass diese aus einer Hand angeboten wird, also auch ggfs. für den Schultransport, die Kooperation mit Schulassistenz und weiteren sozialen und therapeutischen Diensten Sorge trägt und die Sorgeberechtigten in diesen Bereichen unterstützt und entlastet. Die Vorgaben, dass jedes Kind einen Anspruch auf inklusive Beschulung hat (UN-Behindertenrechtskonvention), sind nicht zu unterlaufen.
  • Systematisch geplante Fortbildung über Gründe, Formen und Prinzipien inklusiven Unterrichts ist notwendig, um positive Einstellungen zu Inklusion bei Schulleitungen, Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften zu unterstützen und die Unterrichtsqualität zu gewährleisten. Es geht darum, die in Teilen des Bildungswesens verbreiteten Widerstände gegen Inklusion und das Verhaftetsein in gleichschrittigen Unterrichtsformen und segregierende und exkludierende Maßnahmen zu vermindern. In systematischen Fortbildungsvorhaben sollte grundlegendes Wissen über die Didaktik der inneren Differenzierung im Fachunterricht sowie in fächerübergreifender Frei- und Projekt- sowie Lernbüroarbeit vermittelt werden.

2. Vorschläge zu konzeptionellen Aspekten von inklusiver Pädagogik und Inklusionsforschung

Im Folgenden möchten wir konzeptionelle Aspekte in den Blick nehmen, die – unseres Erachtens – im öffentlichen Diskurs zu Inklusion häufig zu kurz kommen: die Qualität der Interaktionen und des Unterrichtsangebotes sowie die Frage, welche Lernenden im Kontext von Inklusion in den Blick genommen werden und wie in heterogenen Gruppen Leistungen bewertet werden können. Diese Aspekte sind für die Ausbildung von zukünftigen Lehrkräften sowie für Erhebungen von statistischen Daten im Rahmen des Bildungsmonitorings von besonderer Relevanz.

  • Wenn es darum geht Aussagen über die Umsetzung von Inklusion im deutschen Bildungssystem zu treffen, wird auf bildungspolitischer Ebene häufig auf die Anzahl der Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Regelschulen im Vergleich zu Sonderschulen verwiesen. Solche institutionellen Entwicklungen betreffen aber nur Voraussetzungen von Inklusion und nicht die Unterrichtsqualität. Es geht bei der Realisierung von Inklusion auch um die Frage, wie die Mitglieder einer Schulgemeinschaft, d.h. Lernende, Lehrkräfte, pädagogische Fachkräfte, Schulbegleitung, weiteres schulisches Personal wie Putzkräfte und Hausverwaltung, Schulleitung, Administration, Eltern, Kooperationspartner und andere beteiligte Akteure im schulischen Alltag miteinander umgehen. Mit Blick auf Kinder und Jugendliche legen beispielsweise verschiedene empirische Studien nahe, dass es im schulischen Alltag immer wieder zu seelischen Verletzungen durch Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte kommt. In der Praxis hat ein Teil der Schulen diesen Aspekt auf dem Schirm. Sie greifen auf vielfältige Fortbildungsangebote zurück, um ihre Beziehungspraxis zu reflektieren und zu verbessern. Dazu gehören die „Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen (paedagogische-beziehungen.eu), die in zehn Leitlinien beschreiben, welche Interaktionen ethisch berechtigt sind und welche ethisch nicht zulässig sind.
  • Wenn es darum geht statistische Aussagen über die Umsetzung von Inklusion zu treffen, kommt auch hier der Aspekt der Beziehungsqualität bislang häufig zu kurz. So fehlt es beim Bildungsmonitoring an aussagekräftigen Daten, inwiefern die Mitglieder einer Schulgemeinschaft sich wertgeschätzt fühlen und inwiefern es zu Momenten der Missachtung kommt. Durch den Fokus auf die Platzierung von Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Regel- und Sonderschulen beim Bildungsmonitoring geraten demnach zentrale Aspekte wie das Erfahren von intersubjektiver Anerkennung in Vergessenheit. Des Weiteren wird dieser Aspekt – nach unserer Erfahrung – auch bei der Ausbildung von zukünftigen Lehrkräften in der Regel nicht mit der Umsetzung von Inklusion verknüpft.
  • Häufig wird in der Bildungsforschung zwischen einem engen und einem weiten Inklusionsbegriff unterschieden. Beim engen Inklusionsbegriff stehen Menschen mit Behinderung im Fokus, deren diagnostische Erfassung allerdings dringend in Richtung der Strategie „Förderpläne für alle“ weiterzuentwickeln ist. Hierzu dient auch der weite Inklusionsbegriff, der alle Mitglieder einer Schulgemeinschaft berücksichtigt und einen besonderen Fokus auf Gruppen legt, deren Teilhabe in Gefahr ist bzw. die im schulischen Kontext diskriminiert und in ihren sozialen und fachlichen Partizipationsmöglichkeiten eingeschränkt werden. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche weiteren Gruppen im Kontext von Inklusion stärker in den Blick genommen werden sollten. Beispielsweise gibt es in den letzten Jahren vermehrt Forschungsbefunde, dass Kinder aufgrund von hohem Körpergewicht im schulischen Kontext diskriminiert werden. Auch die Verschränkung von Zuordnungen anhand von Kategorien, d.h. eine intersektionale Perspektive, ist zu berücksichtigen. In Bezug auf die schulische Praxis bedeutet dies, dass Lehrkräfte sensibel beachten, dass sich durch die Verschränkung von zwei Differenzlinien, z.B. dass ein Kind, welches sehbehindert ist und in einem Haushalt mit wenigen ökonomischen Ressourcen aufwächst, teilweise andere Bedarfe hat, als ein Kind, welches auch sehbehindert ist, aber über andere ökonomische Ressourcen verfügt. Dabei ist auch zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung zu unterscheiden. Dies lässt sich am Beispiel der Lernenden mit Migrationshintergrund illustrieren – hier zeigt sich, dass viele Kinder, die nach Definitionen des statistischen Bundesamtes einen „Migrationshintergrund“ aufweisen, sich selbst nicht als Person mit Migrationshintergrund identifizieren. Des Weiteren gibt es beispielsweise auch viele Schwarze Deutsche, die nach üblichen Definitionen keinen Migrationshintergrund aufweisen, aber im schulischen Alltag als Personen mit Migrationshintergrund wahrgenommen werden und Diskriminierung erfahren (vgl. Aikins et al. 2020). In Bezug auf die Erhebungen zur Qualität inklusiven Unterrichts ist demnach in den Blick zu nehmen, welche kategorialen Zuordnungen – neben Behinderung – im schulischen Alltag eine Rolle spielen, inwiefern sich unterschiedliche Dynamiken in der Verschränkung zeigen und inwiefern ggf. zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung unterschieden werden sollte.
  • Inklusive Pädagogik strebt an, ein hochwertiges Unterrichtsangebot zur Verfügung zu stellen und die individuellen Schulleistungen in heterogenen Gruppen anzuerkennen. Damit stellt sich Inklusion der Herausforderung auf „ableistische“, das heißt leistungsbezogene Über- und Unterordnungen zu verzichten. Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Reckahner Modelle zur inklusiven Unterrichtsplanung“ (ReMi), das von der Robert Bosch Stiftung gefördert wird, ist einer hierarchiearmen (fach)didaktischen Diagnostik und Leistungsbewertung verpflichtet. Das Vorhaben will Instrumente zur Verfügung stellen, die Lehrkräften helfen, zwei für unterrichtliche Individualisierung zentrale Fragen zu klären: Was kann das einzelne Kind jetzt? Welches Lernangebot braucht das Kind, um von hier aus weiterlernen zu können? https://inklusive-didaktik.de/. Hinzukommen notwendige Kenntnisse über die jeweiligen Lernausgangslagen des einzelnen Kindes und fachdidaktisches Wissen über individualisierte, kognitiv anregende Unterrichtsangebote (https://pse.hu-berlin.de/de/forschung-und-lehre/projekte/fdqi-hu/aktuelles-fdqi-hu).

Literatur

Aikins, J. K., Gyamerah, D., Matysiak, J. C. & Piezunka, A. (2020). Wer nicht gezählt wird, zählt nicht: Empirische Forschung zu Schwarzen Menschen in Deutschland. WZB-Mitteilungen(169). https://bibliothek.wzb.eu/artikel/2020/f-23315.pdf

Frohn, J., Brodesser, E., Moser, V. & Pech, D. (Hrsg.): Inklusives Lehren und Lernen. Allgemein- und fachdidaktische Grundlagen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Prengel, Annedore (2022): Schulen inklusiv gestalten. Eine Einführung in Gründe und Handlungsmöglichkeiten. Opladen: Verlag Barbara Budrich